Unsere Arbeitswelt befindet sich in einem stetigen Wandel, bestehende Systeme werden hinterfragt und neue Ansätze ausprobiert. Themen wie die 4-Tage-Woche, Work-Life-Balance, neue Führungsmodelle und Anforderungen der Generation Z werden in den Unternehmen zunehmend stärker diskutiert. Auch im Personalbereich lohnt sich daher ein Blick auf bestehende Traditionen und die Frage: Sind sie eigentlich noch zeitgemäß?
In diesem Artikel wollen wir vor allem einen Blick auf einen “Klassiker” in Bewerbungsverfahren werfen: Das Anschreiben.
Die Rolle des Anschreibens in der Bewerbung
Das Anschreiben ist ein traditioneller Bestandteil einer Bewerbung und soll dazu dienen, potentiellen Arbeitgeber:innen einen ersten Eindruck über den:die Bewerber:in zu geben. Es bietet Bewerber:innen die Möglichkeit, ihre Motivation, ihre Qualifikationen und die Passung zur Stelle darzustellen. Doch in einer Zeit, in der Bewerbungsprozesse zunehmend digitalisiert und vereinfacht werden, stellt sich die Frage: Braucht es so ein Anschreiben eigentlich noch?
Die traditionelle Bedeutung und der Zweck des Anschreibens liegen in der Möglichkeit, sich als Bewerber:in persönlich vorzustellen und gezielt auf die ausgeschriebene Stelle einzugehen. Es bietet Raum, um die eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen in Verbindung mit den Anforderungen des Unternehmens zu präsentieren. Ein Vorteil für Arbeitgeber:innen ist, dass das Anschreiben eine erste Filtermöglichkeit bietet, um Bewerber:innen mit unpassenden Qualifikationen oder Motivationen auszusortieren. Es kann auch als Indikator für die Kommunikations- und Schreibfähigkeiten eines Bewerbers dienen.
Die Relevanz des Anschreibens für die Einschätzung von Bewerbern ist jedoch umstritten. Während einige Arbeitgeber es nach wie vor als wichtigen Faktor bei der Auswahlentscheidung betrachten, zweifeln andere an seiner Aussagekraft, sodass beispielsweise nur noch jedes fünfte DAX 40-Unternehmen bei der Bewerbung ein Anschreiben fordert. Diverse psychologische Studien ergaben, dass das Anschreiben nur eine geringe Vorhersagekraft für die spätere Leistung im Job aufweist. “Bewerbungsfoto und Anschreiben: besser gar nicht erst beachten”, heißt es in einem Artikel der Wirtschaftspsychologie-Doktorandin Marie Ohlms in einem haufe-Artikel. Genauer erklärt wird diese Haltung so: “Problematisch ist hierbei, dass ungewiss bleibt, inwiefern die genannten Eigenschaften der Kandidatinnen und Kandidaten mit ihren oder seinen tatsächlichen Kompetenzen übereinstimmen oder ob beim Verfassen auf Selbstdarstellungstaktiken aus Ratgeberliteratur zurückgegriffen wurde. Zudem kann nicht überprüft werden, ob das Anschreiben von den Bewerbenden überhaupt selbst formuliert wurde.”.
Der Trend, über Sinn und Unsinn von Anschreiben zu diskutieren, ist in der Branche nicht neu. In HR-Fachmedien hieß es beispielsweise schon 2018, dass die Deutsche Bahn das Anschreiben bei Bewerbungen um Ausbildungsplätze abschaffen will. Schon damals gaben übrigens auch fast die Hälfte aller befragten Personalverantwortlichen einer repräsentativen Studie von Robert Half an, dass sie ein Anschreiben für nicht besonders aussagekräftig halten und es daher eher für unwichtig im Bewerbungsprozess halten. Laut einer Studie der Plattform Joblift von 2021 bewerben sich außerdem viele Jobinteressierte eher für eine Stelle, wenn kein Anschreiben verlangt wird. Das gilt besonders für jüngere Menschen.
Das “Selection Criteria Statement” als “Anschreiben 2.0”?
“Das Anschreiben stirbt aus — sein Nachfolger steht schon in den Startlöchern”, titelt die Plattform Business Insider Anfang des Jahres online. Dieser Nachfolger ist als sogenanntes „Selection Criteria Statement“ bekannt (zu Deutsch: Darlegung der Auswahlkriterien). Hinter dem Begriff befindet sich ein ausführlicher Fragebogen mit spezifischen Fragen zu vorherigen Arbeitserfahrungen und zur eigenen Motivation. Ziel dieser Methode ist es, nicht mehr nur teils oberflächliche, austauschbare und nichtssagende Anschreiben miteinander zu vergleichen, sondern zu ganz konkreten Fragen ganz konkrete Antworten zu erhalten. Der Artikel stellt klar: “Unternehmen müssen konkrete Fragen stellen, damit Bewerber nicht um den heißen Brei herumreden.” Im englischsprachigen Ausland und auf dem akademischen Arbeitsmarkt ist dieses Vorgehen bereits etablierter, warum also nicht auch für die deutsche Auswahl von Mitarbeitenden und Azubis?
Gerade für potenzielle Azubis kann diese Methode von Vorteil sein – und weitaus hilfreicher als allgemein formulierte Anschreiben. Schüler:innen, die sich auf Ausbildungsplätze bewerben, haben häufig noch nicht viel Erfahrung mit Bewerbungen, sodass sich hier aufgrund der klassischen Ratgeberliteratur und/oder Tipps und Vorlagen im Internet Anschreiben relativ häufig ähneln. Diesen Trend sah man schon, bevor die Frage aufkam, wie mit Anschreiben im Zeitalter von ChatGPT umgegangen wird (die der folgende Artikel bei heise online aufwirft). Alles in allem gute Gründe, das klassische Anschreiben in jedem Fall kritisch zu hinterfragen.
Alternativen zum klassischen Anschreiben
Grundsätzlich scheint in der HR-Welt bereits angekommen zu sein, dass nicht ein einzelnes Auswahlkriterium bzw. eine einzelne Methode, sondern ein Methodenmix am erfolgversprechendsten ist, um geeignete neue Teammitglieder zu finden.
Gerade bei der Suche nach neuen Auszubildenden lohnt es sich, Zeit und Gedanken in ein gutes Auswahlverfahren zu stecken, denn während der Ausbildung investiert ein Unternehmen viele Ressourcen in die Ausbildung von jungen Menschen – die bestenfalls schon zu Beginn so ausgewählt worden sind, dass sie gut zum Ausbildungsberuf und zum Unternehmen passen, um langfristig zu bleiben. Zu den wichtigsten Alternativen im Bewerbungsprozess gehörten die folgenden fünf Punkte:
- Lebenslauf
- Bewerbungsgespräche
- Arbeitsproben und Referenzen
- Persönlichkeitstests und psychometrische Bewertungen
- Assessment-Center und praktische Aufgaben
Während die ersten drei Punkten klar sein sollten, sind Testverfahren und Assessment-Center an vielen Stellen noch nicht etabliert – vor allem nicht in der Azubiauswahl. Daher möchten wir im Blog noch einmal detaillierter auf beide Punkte eingehen.
Zu den gängigsten Testverfahren in der Personalauswahl gehören Leistungstests, die das Wissen, die Fähigkeiten und die Kenntnisse der Bewerber:innen erfassen, sowie Persönlichkeitsfragebögen, die das Verhalten, die Präferenzen, Werte und Einstellungen im Alltag diagnostizieren können. Ein bekanntes Beispiel für ein Testverfahren ist der Intelligenztest, der als einer der besten Indikatoren für berufliche Leistung gilt. Insbesondere für anspruchsvolle Tätigkeiten mit kognitiven Anforderungen ist die Integration eines Intelligenztests in den Auswahlprozess empfehlenswert. Gerade wenn die Vergleichbarkeit von Schulnoten aufgrund unterschiedlicher Schul- und Ausbildungssysteme schwierig ist und/oder wenn der Eindruck besteht, dass gute Noten zu inflationär vergeben werden, sodass sie an Aussagekraft verlieren, kann ein kognitiver Leistungstest zu einer validen Beurteilung der Eignung von Kandidaten beitragen. Dieses Verfahren kann gerade bei potenziellen Azubis hilfreich sein, da hier noch keine relevanten Zeugnisse und Referenzen aus dem Arbeitsleben vorliegen oder praktische Arbeitsproben sinnvoll wären.
Assessment-Center sind strukturierte Auswahlverfahren, um Bewerber:innen für eine Position zu beurteilen, die auch bei der Auswahl von Azubis eine wertvolle Methode sein können. Durch praktische Übungen, wie Gruppendiskussionen, Rollenspiele oder Fallstudien, können die Bewerber:innen ihre sozialen Kompetenzen, Teamfähigkeit, Problemlösungsfähigkeiten und Kommunikationsfähigkeiten zeigen. Zusätzlich können Tests zu fachspezifischem Wissen oder Aufgaben zur Bearbeitung von typischen berufsrelevanten Situationen integriert werden. Die Vorteile liegen in der ganzheitlichen Beurteilung, der Chancengleichheit durch gleiche Aufgaben für alle und der objektiven Bewertung durch mehrere Beurteiler:innen.
Kommen wir zum Abschluss noch einmal zurück auf die Ausgangsfrage dieses Artikels “Hat das Anschreiben ausgedient?”. Unsere Antwort ist: “Ja, aber..”. Ja, das Anschreiben hat aus guten Gründen ausgedient, aber es sollte nicht einfach ersatzlos gestrichen werden. Wer überlegt, das Anschreiben aus dem eigenen Bewerbungsprozess zu streichen, der sollte die Chance nutzen in dem Zuge auch einmal ganz generell zu schauen, welche Methoden aktuell zum Einsatz kommen und ob sie genutzt werden “weil wir das schon immer so gemacht haben”, oder weil es sinnvolle und bestenfalls auch messbare Vorteile gibt.
P.S.: Wer sich schon immer gefragt hat, ob auch Bewerbungsinterviews ihre Daseinsberechtigung verloren haben, der ist bei folgendem Artikel auf unserem Blog richtig. So viel vorab: Bewerbungsinterviews sollten bei jeder guten Personalauswahl dabei sein. Wie Sie diese Interviews gut führen und welche Rolle sie bei der Auswahl von Azubis spielen, lesen Sie hier.